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147. das Fernsehen

das inständige Hoffen des Knaben, dass Fernsehen ausser der Massenkommunikation auch andere Aufgaben erfüllen könne, das deutlich wurde, als R.I., den die Eltern vor fünf Jahren aus dem Haus gewiesen hatten, nach seinem missglückten Selbstmordversuch sagte: "Ich suche einen Job beim Fernsehen, denn das wäre die einzige Möglichkeit, meiner Mutter wieder einmal unter die Augen zu kommen".

148. das Paradies

die leergedrückte Spraydose Trockenshampoo, die mir jetzt, wo ich sie zum Abfall schmeisse, unvermittelt suggeriert, dass sich mein Paradiesgefühl in jenen Gegenden einstellen könnte, wo man nicht das wegwirft, was man gebraucht hat, sondern das, was man nicht braucht.

152. die Bananen

die tropendichten Signale vom Paradies im TV-Bananen-Werbespot, der mich plötzlich darauf aufmerksam macht, dass mein Paradies dort liegt, wo die Bananen Bananen und nicht Chiquita heissen.

153.  die Verrichtung

die Verrichtung, die ich heute abend ganz unbedacht getan habe - trotzdem ich auch jetzt noch nicht weiss, ob es gut war, sie zu tun -, und dieses nun aufkommende Gefühl, es sei meistens schlechter, etwas zu bereuen, als es nicht getan zu haben.

155. die Unauffälligkeit

die Erfahrung, wie leicht es mir fällt, im Gewühl von Demonstrationen und Staatsbesuchen die ganz unauffällig in der Menge plazierten Body-Guards und Geheimpolizisten zu erkennen, weil ihre Kleidung immer und überall von derselben fürchterlichen Unauffälligkeit ist.

157. der Horizont

die unvergessliche Antwort, die David mir gab, als ich ihn fragte,ob er James gesehen habe, diese Antwort, die da lautete: "Du kannst James nicht verpassen. Er ist am Horizont",

157a. und meine Feststellung, dass dieser Satz nur deshalb kein Unsinn ist, weil er mitten in der Sahara ausgesprochen worden war.

158. der Orangensaft 

die entschuldigende Geste, mit der William aus Ohio nach dem ersten Schluck das Glas mit dem frischgepressten Orangensaft wegstellte: "Der schmeckt nicht wie bei uns!",

158a.   und die in längerer Diskussion erfahrene Begründung für Williams Abscheu: Dieser Orangensaft stammt von der Natur, und nicht von 'Miller and Grahams Fruit Flavor Factory",

158b.   und die Gewissheit, dass Miller and Graham's Meisterleistung nicht in der Qualität ihres Getränkes liegt, sondern darin, das Künstliche natürlicher schmecken zu lassen als die Natur, indem sie uns lange genug einreden, ihr Geschmack von Orangen sei Orangengeschmack.

163. das Ausland

die Inbrunst, mit der Wachtmeister Knellwolf im "Hirschen" die Ansicht vertrat, wir Schweizer seien, kraft unserer angeborenen Disziplin und Ordnungsliebe, dazu bestimmt, die Leute im Ausland Ordnung zu lehren,

163a. und meine Einsicht, dass Wachtmeister Knellwolf vermutlich zu jenen Schweizern gehört, denen man erst einmal sagen muss, dass das Ausland grösser ist als die Schweiz.

175. der Schlaf

die Kürze der Nacht, die verriet, dass ich geschlafen haben musste auf dem Flug über den Atlantik, und die beim Öffnen der Flugzeugtüren nach der Landung erkennbaren Anzeichen dafür, dass der Traum dieses Schlafes nach dem Erwachen weitergeht.

176. der Samstag

der Mittwoch, an dem ich in Rio angekommen bin, und der darauffolgende Samstag, der mir nun - nachdem ich drei Tage durch eine verwirrende Bühnendekoration getaumelt bin - erstmals das Gefühl gibt, in Rio zu sein.

178.       das Strassenbild

               der Einklang aller Zeichen – Formen, Farben, Gewichten, Lauten – in der Rua do Fogo in Paraty, der Rara, als plötzlich ‚Züritüütsch' zu hören war, zur Feststellung provozierte: „Wer die Sprache der Einheimischen nicht sprechen will, verschandelt das Strassenbild , verschmutzt die Umwelt!"

179.       die Flüche

die acht Musiker, die sich nach der Eröffnung des Strassentheater-Festivals am 3. Oktober in Paraty um den Tisch setzen vor ‚Val's Lanches' in der Rua da Cadeia und mit ihren Instrumenten, Trompete, Tamburin, Posaune, Triangel, Trombone, Trommel aufeinandereinspielen als würden sie durch die Musik miteinander reden, diskutieren, witzeln. sprechen , sagen, scherzen, behaupten und widersprechen,

179a.     und das europäisch anmutende, strenge und wohlhabend gekleidete Paar, das aussieht als ob es Reinhardt hiesse, und das mit reglosen Gesichtern derart entgeistert und betreten auf den Tisch der Musiker starrt, als würden sie sich mit ihren Instrumenten obszöne Flüche zuschreien.

180.       die Krawatte

das Gewimmel in Brasiliens Strassen, das Gewühl von Leuten in Shorts und T-Shirt, und die aufschlussreiche Beobachtung, dass, wer Krawatte trägt, immer auf dem Weg ist vom Auto zur Haustür - oder umgekehrt.

185.       die Erde

der in verfilzten Kleidern durch Tocantins ziehende Landarbeiter, von dem man mir sagte, er ernähre sich von der Erde, was ich, natürlich, so verstand, dass er esse, was die Erde hervorbringt, bis mich mein Gegenüber auf das fürchterliche Missverständnis aufmerksam machte, das mich dann noch tagelang beunruhigt hat, weil Erde tatsächlich die Hauptnahrung dieses Mannes ist.

186.       die Störung

man ist und will nur sein, diese Lust, die so bestimmend wird, dass alles andere, selbst der Wille, etwas zu wollen, als Störung erscheinen muss.

187.       das Besteck

das Buch „Xurumbambo", das wie Besteck zu diesem Nachtessen im „Refugio" in Paraty gehört, weil meine linke Hand es - während die rechte Spaghetti auf die Gabel dreht - unablässig durch die Luft peitschen muss um die Käfer zu erschlagen, die über das Tischtuch krabbeln und jene Rieseninsekten (Burrachudos) aus der Luft zu holen, die sich unbeirrbar wie Stukas in meinen 'Sugo bolonhese' stürzen wollen.

188.      das Schimpfwort

dass das Wort 'Buch' als Schimpfwort gebraucht und das Buch als widerwärtiger ekelerregender Gegenstand empfunden werden kann, diese Umwertung eines mir wertvollen Dings, die nirgendwo anders als im Cowboy-Club an der Praça Mauà zu erfahren ist, weil man wohl nur dort einen Taschendieb verstohlen zu seinem Berufskollegen sagen hören kann: "...beim Griff in ihre Tasche...was hab' ich da gespürt?...Nix als ein Buuuch!"

191.       die Salvadorenser

die Anrede „liebe Salvadorenser", mit der ich mich bei der Lesung im Goethe-Institut an die Einwohner der brasilianischen Grossstadt Salvador wandte, und ihre Reaktion, die gar nicht so war, als fühlten sie sich angesprochen, so lange nicht angesprochen, bis mich ein Teilnehmer aufklärte, Salvadorenser seien die Einwohner der mittelamerikanischen Republik El Salvador, - wenn ich die Einwohner der Stadt Salvador meine, müsse ich sie Soteropolitaner nennen, was mir zunehmend leichter fiel bis zum Ende meines Aufenthaltes in Salvador, der ein soteropolitanischer war.

193.       die Weltliteratur

der Stoff, den ein Leser lesend und ein Zuschauer zuschauend zur Kenntnis nimmt, und der Unterschied zwischen Zuschauer und Leser, den Jorge Amado aufgehoben hat, weil ihm der Stoff wichtiger ist als das Medium, das ihn transportiert,

193a.     und Amados Kopfnicken ob der Feststellung des jungen Walmiro, der die Weltliteratur prima kannte, aber nicht vom Lesen: „Bücher! Die sind nicht zum Lesen da, sondern dazu, verfilmt zu werden".

194.       der Grad

die zahlreichen verschiedenen Stärkegrade, die Lärm haben kann, und der eine, der einzige Grad, den sein Gegenteil haben kann, die Stille.

201.             die Telefonnummer

meine Scheu, die fast schon Beklemmung war, und die mich jetzt in der ohrmuschelförmigen Telephonkabine in Salvador hinderte, die Nummer 247 - 2165 einzustellen, weil ich während des Wählens daran denken musste, mit welchem stimmlichen Aufwand Jorge Amado sich bei unserem Treffen im Hotel Martinez in Cannes am 18. Mai 1985 über die Anrufer und die ungebetenen Besucher beklagt hatte, deren Allgegenwart ihn zwang, für seine Schreibarbeit ein verschwiegenes Refugium zu mieten, und mein durch Kopfnicken geäussertes Verständnis für das Bedürfnis des Bedrängten nach Ruhe,

201a.           und mein kurz nur auflebendes Unverständnis, das ich schnell und irgendwie stolz zurücknahm, als ich sah, wie Jorge Amado unter seine Widmung im Buch "Tenda dos Milagres" genau jene Telephonnummer setzte, die ich jetzt in der Telephonzelle von Salvador - seines Klagens über die Anrufer wegen - nicht zu wählen wage.

203.             die Eitelkeit

die Eitelkeit, die Jorge Amado jedesmal, wenn irgendwo ein Photograph oder eine Fotografin auftaucht - und noch bevor ein Objektiv auf ihn gerichtet ist - veranlasst, mit einer Beiläufigkeit vorspielenden Geste die Brille auszuziehen,

203a.           und Raras Rüge, ich tue Amado unrecht, wenn ich ihn der Eitelkeit bezichtige; er ziehe die Brille vielmehr nur deshalb vom Gesicht, weil er um die entstellenden Reflexe wisse, die das Brillenglas auf Fotografien erzeuge.

204.             der Schutzschild

das Buch, das Frido demonstrativ - Form und Inhalt nutzend - vor sich her durch das Gewühl brasilianischer Strassen trägt als Schutzschild mit dreifacher Wirkung; erstens als, vom Inhalt erzeugte, moralische Stärkung des Trägers bei seinem Gang durch die übelstbeleumundeten Gassen, zweitens als Gegenstand, dessen heilende Ausstrahlungskraft Banditen und Diebe vom Zugriff abzuschrecken vermöge und drittens als scharfkantige Waffe, die Angreifer im Notfall ausser Gefecht setzen kann.

205.             der Bittsteller

der auf einen knorrigen Stecken gestützte Bittsteller mit dem weissen zerzausten Bart, den Frido und ich am 7.März 94 im Warteraum vor dem Büro des Bürgermeisters von Paraty seine Bitte lallend und delirierend einüben sahen, diese uns unverständliche Bitte, die der Alte sieben Stunden später an unserem Tisch im Restaurant Santa Rita mit derart inbrünstigem Nachdruck vortrug, als habe er sie immer schon - statt an den Bürgermeister Edson Didino Lacerda - an uns beide Schweizer richten wollen.

211.             der Oberkörper

„fürchterliche Stunden" habe er erlebt, „nichts als Stress und Mühe", diese Feststellung des Mannes, der in der Novemberhitze mit blossem Oberkörper vor mir durch die Rua da Matriz geht, und dessen Behauptung ich widerlegen könnte (wenn ich wollte), weil in seinen nackten Rücken das Netzmuster eingegraben ist der Hängematte, in der er lag.

213.             die Poesie

das Entsetzen, das mich peinigt ob der heftig steigenden Zahl der brasilianischen Dinge, die ich bereits vergessen habe, und der Trost, dass ich wenigstens alle jene Dinge nicht vergessen kann, die mir Poesie geworden sind.

226.                      das Wetter

mir das Wetter wegzudenken aus der Welt, diese unglückliche Versuchsanordnung zum möglichen Verbessern dieses frostig nassen Herbsttages, die ich abbrach, als ich zum Ergebnis kam, dass das Fehlen des Wetters die Welt auch nicht besser macht.

233.                      Nino Rota

die Empfindung, von der ich nicht weiss, weshalb sie mir ausgerechnet jetzt zufällt, während Pablo Stähli und ich den eben verstorbenen Nino Rota ehren, diese Empfindung, die doch irgendetwas mit unserm augenblicklichen Verhalten zu tun haben muss: Warum ist mir ein nicht zu Ende geführter Satz weniger unangenehm als eine nicht zu Ende geführte Geste?

236.                      das Latein

die Listigkeit, mit der Stefan den Motivierungsversuchen seines Vaters ausweicht, indem er verkündet, er habe erst dann Lust, Latein zu lernen, wenn die James Bond-Filme nicht immer nur deutsch, sondern endlich auch lateinisch synchronisiert würden.

238.                      die Einsicht

die entscheidende Feststellung, dass, wo vieles anders ist, Alles anders sein muss,

238a.                  und die sich erst im Nachhinein ergebende Einsicht, dass es nicht vieles sein muss, weil etwas schon genügt.

240.                      der Fortschritt

das Gespräch über Fortschritt, in welchem der Afrikaner Ulian mit Stolz sagte: "Jetzt haben alle Häuser bei uns elektrisches Licht", und die Entgegnung, die er zu hören bekam: "Bei uns ist der letzte Tramkondukteur durch den Ticketautomaten ersetzt worden".

244.                      der Abgebildete

das äusserst prekäre Verhältnis von Abbildung und Abgebildetem, das mich erschreckt, jetzt, wo ich mich, während des Betrachtens meiner Porträtfotografie von Gerard Malanga, bei der unausgesprochenen Feststellung ertappe: So wie ich auf diesem Bild aussehe, so möchte ich aussehen.

252.                      die Hochhäuser

"Ist das ein Film ?", diese Frage, die das Kind an mich richtete, als es unsere Filmkamera vor der betonstrotzenden Hochhausüberbauung an der St. Johannes-Strasse in Zug sah, und die Ahnungen, die es in mir weckte, als es mein "Ja, das ist ein Film!" mit der Frage begleitete: "Ein Film über jemanden, der sich vom Balkon herunterstürzt?"

260.                      die Tagesschau

Heinkes Gewohnheit, die Nachrichten der Tagesschau stets im Schweizer Fernsehen zu verfolgen und nicht im deutschen - wie ich es von einer Deutschen eher erwartet hätte -, diese Gewohnheit, die sie mit der Feststellung begründet, die schlimmsten Nachrichten klängen im Schweizer Fernsehen deshalb weniger schlimm, weil der Schweizer Akzent des Nachrichtensprechers das Schlimmste weniger schlimm erscheinen lasse.

263.                      der Drehstuhl

das Drehen am Drehstuhl in der Kabine des Fotoautomaten am Bellevue, dieses Höher- und Tieferschrauben, um den Kopf genau auf die Höhe des Kameraauges zu bringen, das mich plötzlich zur Frage veranlasst, warum man eigentlich zum Zwecke der Identifikation von allen Körperteilen ausgerechnet den Kopf fotografieren müsse,

263a.                  und der Pantomime, der diese Frage im Fotoautomaten provoziert hat, der Pantomime, als dessen Passfoto man auch die Hand, den Fuss, den Schenkel fotografieren könnte, denn diese Körperteile haben bei ihm die selbe Ausdruckskraft wie der Kopf.