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Ein Brasilianer namens Thomas Mann

"Frido Mann verpasste Flugzeug, - trifft aber heute in Rio ein!", stand als Überschrift in der grossen brasilianischen Tageszeitung "O Globo". Da wurde mir klar, weshalb ich am Tag vorher umsonst im Flughafen Rio auf die Ankunft meines Freundes aus der Schulzeit gewartet hatte. Als ich dann allein vom Aeroporto ins Hotel Gloria zurück- gekehrt war, fand ich mich in der Halle Reporter- und Fotografenteams der wichtigsten Tageszeitungen Brasiliens gegenüber, die mich um Auskünfte bestürmten nach dem Verbleib des Erwarteten. Als fiebere Brasilien der Ankunft einer Weltberühmtheit entgegen, hatte die Presse nämlich bereits Tage zuvor die Öffentlichkeit auf den Empfang des Schweizer Gastes eingestimmt. Mit einem publizistischen Aufwand, der des Grossvaters würdig wäre, wurde der Enkel des grossen Thomas Mann schon im Voraus willkommen geheissen: Einen vollen Monat vor Fridos Ankunft hatte die renommierte "Folha de S.Paulo" grossformatig das legendäre Foto veröffentlicht, auf der die beiden Enkel Frido und Toni den zu liebevoller Mahnung erhobenen Zeigefinger ihres Grossvaters Thomas Mann anstaunen. Und über der ganzen Seitenbreite steht als Titel: "Frido Mann erzählt die brasilianische Familiensaga". Eine ganze mehrseitige Wochenendbeilage dann zeichnete in verschiedenen Artikeln die verwandtschaftlichen Verzweigungen der Dynastie des grossen Dichters nach und gab der Grafik des Stammbaumes viel Platz. "O Globo" hatte im Voraus "Fridos tropischen Stammbaum" aufgezeigt, nachdem sie drei Tage vorher schon geweissagt hatte: "Der Lieblingsenkel von Thomas Mann wird Verwandten in Brasilien begegnen!" Auftakt für die Welle von Aufmerksamkeiten scheint die frühe Ankündigung gewesen zu sein: "Thomas Manns Enkel erforscht das Leben seiner brasilianischen Urgrossmutter".

Ausgelöst worden war der Plan zu dieser Reise von einem Treffen Frido Manns mit Marianne Krüll, Familiensoziologin an der Universität Bonn, vor den Kameras des Schweizer Fernsehens in der Sendung 'Kultur im Gespräch'. In dieser Sendung war Marianne Krülls Buch 'Im Netz der Zauberer. Eine andere Geschichte der Familie Mann' diskutiert worden, in welchem die Autorin auch dem brasilianischen Ursprung der Mann-Dynastie Gewicht gibt.

Dass Frido Mann die Herkunft seiner Urgrossmutter nicht nur aus genealogischer Neugier erforschen wollte, sondern auch deshalb, weil er Bruchstücke ihres Schicksals in seinem vierten Roman zu verarbeiten gedenkt, hat in der Presse auch Spekulationen über eine vieles enthüllende tropische Familiensaga geweckt: Was Thomas Mann in den "Buddenbrooks" mit dem deutschen Zweig seiner Familie gemacht habe, das mache nun sein Enkel Frido mit dem brasilianischen Zweig. In der Sprache des Boulevardjournalisten hiess das dann etwa: "Sind tropische 'Buddenbrooks' im Entstehen?' Dass Frido da biographische Daten aus dem Leben seiner brasilianischen Vorfahren ganz frei einzusetzen plant und so die Familie der Urgrossmutter statt - wie es wirklich geschehen ist - nach Deutschland, nun in die Schweiz auswandern lassen will, das änderte nichts an der Meinung Thomas Manns Enkel übe sich in Faktentreue. Auch dass Frido, der Sohn von Thomas Manns jüngstem Sohn Michael, immer wieder betonte, er sei nicht Deutscher, sondern Schweizer, vermochte die brasilianischen Medien nicht zu hindern, die ursprüngliche Nationalität seines Grossvaters immer wieder über ihn, den Enkel, zu stülpen.

Auch wenn es im deutschsprachigen Europa kaum jemand richtig wissen will, in Brasilien weiss es jedes Kind: Der grosse deutsche Dichter Thomas Mann ist der Sohn einer Brasilianerin. Und aus der ganzen Schlagzeilenpracht der brasilianischen Presse mag da durchaus auch der Stolz einer oftmals diskreditierten Nation hervorscheinen, Wesentliches zur Ausformung europäischer Kultur dieses Jahrhunderts beigetragen zu haben. Heftiger noch formuliert diesen Sachverhalt jener paulistanische Künstler, der zu verstehen gab, im brasilianischen Stolz auf Thomas Manns Mutter, sei der verschmitzte Hinweis eines langezeit durch Europa definierten Volkes an die Europäer enthalten, dass die Kolonisatoren ohne den Beitrag der Kolonisierten nie jene Rolle zu spielen hätten, die sie in unzähligen kulturpolitischen Theaterproben einstudiert haben. Und nicht nur die Bildungselite gibt im Gespräch zu erkennen, dass sie bereit ist, die Bezeichnung für bare Münze zu nehmen, mit der eine brasilianische Zeitschrift den bedeutendsten Jahrhundertgenossen unter den deutschen Schriftstellern - in Verkennung der eigentlichen Proportionen - zu bezeichnen wagte: "Der halbbrasilianische Dichter Thomas Mann..."

Hätte man genau sein wollen, so hätte dieses markante Adjektiv eigentlich Thomas Manns Mutter gebührt: Julia da Silva - Bruhns. Sie war die Tochter der von Portugiesen abstammenden Brasilianerin Maria da Silva und des Deutschen Johann Ludwig Hermann Bruhns, der 1839 von Lübeck nach Brasilien gekommen war mit der phantastischen Absicht, den Fluss Tietê schiffbar zu machen und so der Region um Sao Paulo einen Verkehrsweg ins Innere des Kontinentes zu sichern. Ein weiterer Zufall in dieser an verwegenen Zufälligkeiten reichen Brasilienreise Frido Manns wollte es, dass 155 Jahre nach Bruhns' erster Initiative und während der Anwesenheit seines Ururenkels im Land, der Tietê endlich als schiffbarer Strom ans Netz der internationalen Wasserwege um den Rio Paranà angeschlossen wurde. Nach erfolgreichen Kaffee-Exportgeschäften in Sao Paulo erwarb Johann Ludwig Hermann Bruhns Ländereien im Küstengebiet zwischen Sao Paulo und Rio. Im Herrenhaus der weitläufigen Zuckerrohr-Plantage 'Boa Vista' in der Nähe des bis heute im Kolonialstil erhaltenen wundersamen Städtchens Paraty hat seine Tochter Julia ihre Kinderjahre verbracht. In einem bizarren Disput streitet auch Paratys Nachbarstadt Angra dos Reis um die Gunst, Geburtsort von Thomas Manns Mutter sein zu dürfen. Julia ist nämlich draussen in der Wildnis unter einem Baum geboren worden, als Bruhns und seine Gattin unterwegs waren von einem ihrer Besitztümer zum andern. Julias ältester Sohn Heinrich Mann hat die Geburt seiner Mutter in der freien Natur Brasiliens später dann in seinem Roman "Zwischen den Rassen" beschrieben. Und dass Heinrich Mann mit dem ersten Vornamen Luiz getauft worden ist, darf als Reverenz an den Grossvater gelten, der seine drei deutschen Vornamen als Joao Luiz Germano Bruhns brasilianisiert hatte. Und weil wir vorher schon von Zufällen sprachen: Ganz so zufällig kann es nicht gewesen sein, dass im brasilianischen Fernsehen am Ankunftstag des Frido Mann ausgerechnet der legendäre Film "Der blaue Engel" nach dem Roman "Professor Unrat" seines Grossonkels Luiz Heinrich Mann gesendet wurde. Den Lesern, die Frido Manns Schritte durch Rio fast täglich in den Zeitungen mitverfolgen konnten, warf "O Globo" schliesslich neuen Diskussionsstoff vor mit der Schlagzeile: "Der Enkel Thomas Manns zieht die Werke seines Gross-Onkels Heinrich vor".

Den Recherche-Telefonaten nach Deutschland eines der Reporter, die tags zuvor vergeblich in der Halle des Hotels Gloria gewartet hatten, verdanke ich nun die Ankunftsmeldung in "O Globo". Erstaunlich, die Geduld, mit der sich Frido nach der durchreisten Nacht gleich beim Eintreffen im Hotel schon von der Reporterschar bestürmen liess: Am Portal der Gloria-Kirche auf dem Hügel über dem Hotel beantwortete er unmittelbar nach der Ankunft die Frage nach seinem ersten Eindruck von diesem südamerikanischen Land. Als die Antwort begreiflicherweise nur im Hinweis auf die Taxifahrt vom Flughafen zum Zentrum Rios bestand, notierte sich einer der Reporter den möglichen Titel ins Notizbuch: "Erwartet wie der verlorene Sohn: Nach vier Generationen kehrt ein Mitglied der Familie Mann in die eigentliche Heimat zurück". Die Antwort der Journalisten auf unsere Frage nach den Ursachen für diesen eigentlich überdimensionierten Medienrummel berührt jedesmal die Schwierigkeiten der fünftgrössten Nation dieser Erde bei der Formulierung der eigenen nationalen Identität: Ein ursprünglich von Indianern besiedeltes Land, in das die europäischen Kolonisatoren afrikanische Sklaven importiert hatten und das nun von Einwanderern aus vier Kontinenten geprägt sei, könne sich eigentlich nur im Ineinanderwirken verschiedener - ethnisch bestimmter - Identitäten erkennen. In einer solchen Situation falle natürlich volle Aufmerksamkeit auf einen Europäer, der auf der Reise zu den eigenen familiären Wurzeln, also auf seiner Identitätssuche nach Brasilien komme. Und zudem verständen die Brasilianer - dies wurde aus Äusserungen an Pressekonferenzen spürbar - Frido Manns Reise als bekenntnishafte "Sühne" dafür, dass Thomas Mann die Brasilianität seiner Mutter "zeitlebens verschwiegen" und nur ganz am Rande seines grossen Werkes erwähnt habe. "Thomas Mann war die Brasilianität suspekt, mit der seine Mutter die wohlbestallte Bürgerlichkeit der Familie aufgebrochen hat, damit die Kunst in sie einziehen kann. Er hat es ihr nie gedankt und hat an der bürgerlichen Lebensnorm festgehalten", mit diesen Worten erklärt der brasilianische Schriftsteller Joao Silverio Trevisan, der die Dynastie Mann zu seinem Thema gemacht hat, das ungeklärte Verhältnis des grossen Sohnes zu seiner Mutter. Nahrung fand eine solche Auffassung natürlich dann in der oft zitierten Aussage Fridos, er könne sich nur daran erinnern, dass ihm sein Grossvater mit Achtung von seinem angesehenen Vater, nie aber von seiner brasilianischen Mutter erzählt habe. Zur Wiedergutmachung also wurde Fridos Ankunft gemünzt, 137 Jahre nachdem die brasilianische Mutter von Heinrich und Thomas Mann ihr Brasilien verlassen hatte.

Und wie sehr dieses Brasilien ihn erwartet hatte, erlebte Frido Mann am Abend des ersten Tages beim Nachtessen im Restaurant "Vila Rica": "Die dunkle brasilianische Seite der Manns" stand als Schlagzeile über der Zeitungsseite, die wir am Tische lasen. Und als der Kellner beim Blick über die Schulter in der abgebildeten Person den leibhaftigen Gast erkannte, riss er uns die Zeitung aus der Hand, zeigte sie andern Gästen, trug sie in die Küche und zum Wirt. Als er zu uns zurückkam sagte er mit unüberhörbarer Ehrfurcht in der Stimme, das Huhn an Mais-Sauce, das Frido eben verzehrt habe, werde in Zukunft auf der Menuekarte als "Huhn à la Mann" angepriesen werden. Dass die Umbenennung des Hühnergerichtes den Journalisten eine Meldung wert war, hat dem Wirt und seinem Restaurant zu beachtlicher Reklame verholfen.

War auch die Erforschung der Orte und der Daten im Leben seiner Urgrossmutter das erklärte Ziel von Frido Manns Brasilienreise, jede Anstrengung wurde da überflüssig: denn was Frido Mann herausfinden wollte, das hatten die Journalisten vor ihm herausgefunden. Mit detektivischer Systematik hatten sie Tage vor Fridos Ankunft den Geburtsort Paraty und die Plantage 'Boa Vista' durchkämmt, hatten Fotos gemacht und konfrontierten den überraschten Europäer nun in den Zeitungen mit den Ergebnissen ihrer Nachforschungen. Die nur vermeintlich unerforschte eigene Vergangenheit auf dem Präsentierteller dargereicht! Die Ankunft zur Rückkunft umgedeutet. Auch ein geheimnisvoller Zettel, der - raschelnd - unter der Tür des Hotelzimmers hindurchgeschoben worden war, kam zu journalistischen Titelehren: Der Luftwaffenoberst Gustavo de Oliveira Borges hatte auf dem Zettel seinen Stammbaum skizziert und bekundete froh seine Verwandtschaft mit dem grossen Deutschen Thomas Mann. Dieser Urenkel von Julias Bruder Manuel Pedro da Silva - Bruhns erschien beim Podiumsgespräch im Goethe-Institut über die brasilianischen Wurzeln der Familie Mann gar zusammen mit seiner 97jährigen Mutter Evangelina Bruhns, die als des Dichters Cousine im fernen Erdteil in jenem Jahr zur Welt kam, als in Europa Thomas Manns literarische Karriere begann. Als die Kunde von der baldigen Ankunft Frido Manns in der Presse die Runde zu machen begann, hatte sich die geistig Rege hingesetzt und ihre Lebenserinnerungen einem Schriftstück anvertraut, das nun den Besuchern des Ortsmuseums von Guaratinguetà, in der Nähe Paratys, den Schnittpunkt von Brasilität und deutscher Literatur erhellen soll.

Das Bild wiederholte sich bei allen Veranstaltungen und Vorträgen: Immer wieder wurden von sichtlich stolzen Besuchern Stammbaum-Rollen vor Fridos Augen ausgebreitet, in der Hoffnung auf diese Weise, einen Verwandtschaftsgrad mit dem Schriftsteller T.M. sanktioniert zu bekommen.

"Frido Mann verlässt das Hotel Gloria und bricht nach Paraty auf", lautete fünf Tage später die Legende unter einer Pressefoto. Und tatsächlich: Im Konvoi fuhren die Wagen von Reportageteams hinter uns her als uns Anton Regenberg, der Direktor des Goethe-Instituts Rio, in seinem Auto in die Geburtsstadt der Urgrossmutter Julia, nach Paraty, chauffierte. Als müsse jede Phase der fünfstündigen Autoreise entlang der Küste dokumentiert sein. Die Fernsehkamera lief bereits als wir vor dem kleinen Hotel Porto Paraty vorfuhren. Selbst das Ausladen der Koffer war den TV-Leuten eine Einstellung wert. Und noch bevor alle Interviewfragen beantwortet waren, musste sich Frido von den Reportern zum Taufstein in der Kirche Nossa Senhora dos Remedios zerren lassen, an dem seine Urgrossmutter getauft worden war. Dort dann trat der Stadthistoriker auf den Plan, der kluge und rührige Diuner José Mello, und überraschte den herbeigereisten Frido Mann mit der Feststellung, dass er seit 25 Jahren damit beschäftigt sei, die Biographie seiner Urgrossmutter Julia zu erforschen. Alle die Dokumente also, die wir in verstaubten Archiven aufzuspüren vorhatten, waren seit langem in seiner Hand. Und als Begrüssungsgeschenk überreichte er dem verblüfften Urenkel gleich eine Kopie der Taufurkunde seiner Urgrossmutter Julia von 1851.

Gleichentags noch zog ein Tross von Reportern und Kameraleuten hinter uns her zur ausserhalb von Paraty gelegenen Plantage "Boa Vista", wo Johann Ludwig Hermann Bruhns - der im lokalen Gewerberegister als Kaffeeproduzent aufgeführt war - Zuckerrohr angepflanzt hatte. Die Pflanzervilla mit den Balkonen und dem herrschaftlichen Saal im Obergeschoss liegt inmitten der reinen Idylle von Palmen und Guavabäumen am Ufer der Bucht. Und erhalten ist bis heute die historische Brennerei mit den altertümlichen Maschinen, in denen Thomas Manns brasilianische Vorfahren den berühmt gewordenen Zuckerrohrschnaps brannten. Und verschmitzt musste Frido Mann zur Kenntnis nehmen, dass das prachtvolle koloniale Gebäude heute in Schweizer Besitz sei. Hocherfreut scheint das in Sao Paulo niedergelassene helvetische Konsortium über den Besuch des neugierigen Nachfahren jedenfalls nicht gewesen zu sein, denn das Betreten des Gebäudes ist uns erst im zweiten Anlauf und nach der Fürsprache offizieller Stellen erlaubt worden.

An die Stimmung dieser Räume und den Zauber der tropischen Umgebung hat sich Julia da Silva Bruhns 1903, als sie in Lübeck Julia Mann war, in ihrem Buch "Aus Dodos Kindheit" erinnert. 1958 erst, also 35 Jahre nach Julias Tod, sind diese Memoiren veröffentlicht worden. Der Auszug aus dem Paradies: 1857 brachte Vater Bruhns die Sechsjähige und ihre vier Geschwister von Brasilien nach Lübeck. Das Buch belegt, wie stark die abenteuerliche Schiffsreise in der Erinnerung lebendig geblieben ist. Ohne ein Wort Deutsch zu können, fand sich Julia da plötzlich in der neuen kühlen Umgebung Norddeutschlands. Die Bilder der Kindheit in den Tropen, die Farben Brasiliens, die Rituale, der Karneval, die Lieder, dies alles ist ihrer Phantasie zeitlebens Nahrung geblieben. Eine nachhaltige Erschütterung erlebten die Kinder dann als der Vater nach Brasilien zurückkehrte und sie ganz der fremden Welt Deutschlands überliess, wo sie ihrer "Negerherkunft" willen oftmals ausgelacht wurden. Dort heiratete die achtzehnjährige Julia dann 1869 den elf Jahre ältern erfolgreichen Kaufherrn und späteren Senator Thomas Johann Heinrich Mann, dessen Name nun schon von drei Schriftstellergenerationen weitergetragen wird.

"Was wäre Europa ohne Thomas Mann und was wäre Thomas Mann ohne Brasilien ?", diese theatralisch gestellte Frage berührt nicht nur das Bedürfnis nach Befestigung eines durch Krisen und Korruptionsskandale beschädigten nationalen Selbstgefühls. Sie stärkt es durch den Anspruch auf Mitwirkung an europäischer Selbstfindung, die so geradezu als Selbstherrlichkeit entlarvt wird. Und beantwortet hat diese emphatische Frage niemand anders als der Schriftsteller Joao Silverio Trevisan, der Julia Mann zur Hauptfigur seines preisgekrönten Romanes "Ana em Veneza" gemacht hat. Unterstützt von zahlreichen Intellektuellen zeichnet er Julia Mann als die kreative Erneuerin, die den Keim des Schöpferischen in die von merkantilem Geist und Geschäftsmentalität geprägte deutsche Familie gepflanzt hat. Ihre durchnervte brasilianische Sensibilität, ihre Musikalität auch, habe jene generationenlang unterdrückten Kräfte der Imagination freigesetzt, die ihre Söhne Thomas und Heinrich zum Schreiben bewegt hätten. So habe also Mutter Julia deutschsprachige Geistigkeit in Bewegung versetzt. Und aus Frido Manns erklärtem Einverständnis mit Trevisans These haben die Medien Brasiliens die Legitimation bezogen, Julia Mann, dieses Kind Paratys, zur Identfiaktionsfigur zu stilisieren.

Weil uns der Stadthistoriker Diuner José Mello mit seiner Forschungsarbeit erfreulicherweise zuvorgekommen war, wurde die beim Bürgermeister Paratys feierlich anberaumte Übergabe des vom Schweizer Generalkonsul in Rio, Rudolf Hilber, abgefassten Gesuches um Zugang zu den Archiven der Stadt nur noch zum symbolischen Akt. Die Offizialität aber gab der Zeremonie dadurch amtliches Gewicht, dass Frido Mann gleich zum korrespondierenden Ehrenmitglied des "Instituto historico e artistico de Paraty" ernannt wurde. Angesichts des Glanzes, den der Name Mann dem Ort verleihe, erhob ihn gleich anschliessend auch die "Fundaçao Paraty" zu ihrem Ehrenmitglied mit der nobeln Aufgabe als "Botschafter Paratys" in Europa bei der Beschaffung von dringend benötigten Mitteln für den Ausbau der havarierten Infrastruktur der Museumsstadt behilflich zu sein.

Beim abendlichen Trunk in der 'Bar Dinho' dann konnte ich als unerkannter Beobachter am Nebentisch mithören, welche Bedeutung die Einheimischen dem Besuch eines Mitgliedes der Familie Mann in ihrem traumhaft idyllischen Städtchen beimessen: "Frido Mann - o homen que mudou Paraty", war da zu hören, also: die Anwesenheit Frido Manns habe Paraty verändert. Und in Anspielung an das enorme Echo des Besuches in der Presse verstiegen sich einige zur Behauptung, in Brasilien sei eine neue 'Manie' ausgebrochen, nämlich die 'Fridomannie'.

Sie erreichte ihren Kulminationspunkt dann wohl in São Paulo bei der als gross angekündigtes Podiumsgespräch vollzogenen Buchvernissage für die brasilianische Ausgabe von Julia Manns Memoirenband. Da war Frido Mann nun nicht mehr nur der gefeierte Enkel des grossen Thomas und der Urenkel der zur Kultfigur gewordenen Julia, da war er nun endlich auch der Schriftsteller Frido Mann. Der um den deutsch-brasilianischen Kulturaustausch hochverdiente Ubiratan Mascarenhas, der in seinem Verlag 'Ars Poetica' den Brasilianern schon Katja Manns 'ungeschriebene Memoiren' und auch Julias Jugenderinnerungen zugänglich machte, hat Ende April 1995 - kaum ein halbes Jahr nach der Publikation in Deutschland - Frido Manns Roman "Terezin oder Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" (LIT-Verlag Münster/Hamburg, 1994) in portugiesischer Übersetzung herausgebracht. Dem von der mannschen "Erblast" befallenen Autor brandete da eine literarische Aufmerksamkeit entgegen, die vergessen macht, dass ihn das deutschsprachige Europa wohl auch deshalb noch nicht zur Kenntnis genommen hat, weil er im Dunkel jenes Schattens steht, den sein übergrosser Grossvater auf ihn wirft. So hat ihm Brasilien geholfen, die - das sind seine Worte: - "gesamtdeutsche Enkelqual" endlich zu überwinden.

Die Frage nämlich, ob es ihn denn nicht beelende, immer nur als der Lieblingsenkel des grossen Thomas Mann präsentiert zu werden, hat Frido Mann zur Zusammenfassung seiner brasilianischen Erfahrung veranlasst: "Im Gegensatz zu dem, was ich in Deutschland erlebe, habe ich in Brasilien nicht einseitig die Rolle des Enkels zu spielen, sondern im wesentlichen auch die Rolle des Urenkels einer exilierten Brasilianerin, die in Europa zwei grosse Schriftsteller geboren hat, und deren Urenkel, auch er ein Schriftsteller, jetzt zurückkehrt. Dabei entdeckt er ein typisches und faszinierendes Muster brasilianischer Identitätssuche und Selbstfindung, - ein Erbe des Makrokosmos brasilianischer Völkervielfalt über Jahrhunderte hinweg."

Dafür, dass die eingestürzte mannsche Brücke nach Brasilien wieder begehbar geworden ist, hat sich ein anrührendes Bild ergeben: Ein vor Hitler nach Brasilien geflüchteter deutscher Emigrant , der als Schatz die mit einer langen persönlichen Widmung von Thomas Mann versehene Erstausgabe von "Achtung Europa" mit sich über den Ozean gerettet hat, legte bei einem öffentlichen Auftritt das seltene Buch vor Frido hin und bat ihn inständig, die handschriftliche Widmung seines Grossvaters nun hier in Brasilien fortzusetzen. Frido Mann hat sie ohne Zögern fortgesetzt.

Peter K. Wehrli
13.September 1994